22. September 2011. Zugegeben: ich hab’s angeschaut. Und gleich noch ein weiteres Mal. Das Rettungsdrama dauerte zwei Tage. Beteiligt waren der Grundeigentümer, die Feuerwehr und eine Schädlingsbekämpfungsfirma. Aber erst als zusätzliche fünf Techniker von Spol & Slam (Spül und Schlamm) aufgeboten waren, konnte es aus dem Wasserrohr befreit werden, das offensichtlich ziemlich junge Kätzchen. Unter dem Blitzlichtgewitter von einem Dutzend Kameras fragt ein Journalist den Retter: „Das Kätzchen ist noch ziemlich jung?“ – „Ja, ziemlich jung“, antwortet dieser. Unter dem Titel „Hier wird die Katze gerettet“ bringen die beiden nationalen Morgen- und die zwei Abendzeitungen den rund anderthalbminütigen Videobeitrag auf ihrem Onlineportal. Auch das schwedische öffentlich-rechtliche Fernsehen hat am Vorabend im Regionaljournal über die Bergung des noch ziemlich jungen, sehr herzigen und mittlerweile wohl sehr teuren Kätzchens von Göteborg berichtet. Der Beitrag ist mit einem journalistischen Mehrwert immer noch auf der Homepage von Sveriges Television abrufbar: die Untersuchung in der Tierklinik hat nämlich ergeben, dass das Kätzchen ein Käterchen ist, sich bester Gesundheit erfreut und ziemlich sicher von seinem Retter adoptiert werden wird. Überaus froh wende ich mich in der benachbarten Spalte des „Dagens Nyheter“ noch Aussenminister Carl Bildt zu, der in Manhattan vor den schwedischen Medien seiner Befürchtung Ausdruck gibt, dass Palästinas Antrag auf Vollmitgliedschaft bei der Uno den Friedensprozess im Nahen Osten ziemlich sicher gefährden wird, was Obama sicher nicht wünsche.
Die etwas peripherere Sicht auf das Weltgeschehen gönne ich mir jeden Morgen, bevor ich mich an die Emails meiner Klientinnen und Klienten, vieler nachtaktiver Medienschaffender, mache. Früher hatte ich den „Dagens Nyheter“ in der Printausgabe abonniert, zu ruinösen Preisen, kostete die Fracht doch ein Mehrfaches der beförderten Zeitung. Per Luftpost traf das Blatt meist am Tag nach seinem Erscheinen ein – ausser an Montagen, an denen die Freitags-, Samstags- und Sonntagsausgabe im Briefkasten lag. Das Lesen der Leintuch grossen Seiten erforderte einiges motorisches Geschick. Nach gründlichem Händewaschen – die Druckerschwärze färbte nur schon beim Hingucken ab – brachte ich den „Dagens Nyheter“ einer Journalistin und Schriftstellerin, die in den vergangenen dreissiger und anfangs der vierziger Jahre in Stockholm gelebt hatte. Das letzte der 102 Trittli der gleichnamigen Gasse hinter mir, waren die Hände schon wieder schwarz. L. und ich unterhielten uns oft über einzelne Beiträge oder Autorinnen und Autoren. Manchmal auch handschriftlich. Und Jahre nach ihrem Tod kommt mir gelegentlich eine ihrer Notizen unter, die in einem Buch steckt und mit der Anrede „Liebe Nachbarin“ beginnt.
Damals hielt ich auch über einen Weltempfänger informationellen Kontakt zu Schweden, eine Verbindung, die seit meiner Studienzeit und späteren Reportagen für das Schweizer Fernsehen nie abgebrochen ist, auch auf persönlicher Ebene nicht. Das kleine Gerät vor mir ausgestreckt, durchwanderte ich damals also meine Wohnung oder mein Büro, welche sich beide in einem Funkloch der Zürcher Altstadt befanden und immer noch befinden, um je nach Tageszeit und Sendefrequenz trotzdem einen Empfangsort zu finden. Wenn ich die Antenne möglichst weit oben an ein Fenster klebte, war das Rauschen etwas leiser, half aber nicht gegen das plötzliche Einfallen eines alles übertönenden arabischen Senders. Das heutige Funkloch ist durchlässiger und beschlägt die mobilen Empfangsgeräte nur noch zeitweise. Ausserdem funktioniert WiFi praktisch immer, so dass mich manchmal ein leichtes Bedauern beschleicht, wenn ich nach Stockholm komme und die letzte Nachrichtensendung zuhause oder unterwegs schon online gesehen habe. Dafür brauche ich nicht mehr hinzureisen. Der Reiz dieses Besonderen ist weg.
Wie auch immer: die Emails sind einigermassen abgearbeitet und ich verlege mein Büro vorübergehend in die Altstadtbar. Nicht nur, dass es dort die im Umkreis von hundert Metern besten Gipfeli gibt, es ist ein Hotspot in jeder Beziehung, W-Lan mal beiseite gelassen, beabsichtige ich eigentlich, zuerst jene Teile der NZZ zu lesen, mit denen ich beim Frühstück nicht zu Ende gekommen bin, und danach ausgedruckte Unterlagen für eine Stellungnahme. Doch da sitzt Anwaltskollege M., der immer noch wie der leibhaftige Marx aussieht, in Begleitung von G., einer bei der Polizei aktenkundigen Hundedame, weil sie alleine Tram fährt, ohne vorher ein Billett zu lösen. Vor sich hat er die NZZ aufgeschlagen, mit dem Artikel über Ratlosigkeit im Gazastreifen, was den bevorstehenden Antrag Palästinas über eine Uno-Mitgliedschaft angeht. Wir kommen rasch auf den Diskussionsbeitrag des Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes zu sprechen, der sich am Tag zuvor in der nämlichen Zeitung gegen verstärkte Boykottaufrufe und die Zementierung eines undifferenztierten Israel-Bildes eingesetzt sowie einem Friedensschluss in der betroffenen Region das Wort geredet hat. Wir versuchen die Grenzen zwischen antisemitischen und antiisraelischen Äusserungen festzumachen. Die Zeit vergeht wie im Fluge und ich muss in mein „richtiges“ Büro zurück, ohne dass ich die NZZ fertig gelesen oder einen zusätzlichen Blick in den „Tages-Anzeiger“, in weitere Zeitungen oder die mitgebrachten Unterlagen geworfen habe.
Am Telefon höre ich förmlich, wie der Fotograf in Berlin innerlich seine Augen verdreht, als er mir die offizielle Begehung jener Orte schildert, an denen der Papst anlässlich seines Besuches haltmachen wird. Begeisterung klingt anders, auch wenn Benedikt XVI. im Olympiastadion allenfalls so ins Bild zu setzen wäre, dass die runde Öffnung im Dach beim Abküssen der Babys wie ein Heiligenschein über diesem prangt. – Doch haben wir es mit viel Weltlicherem zu tun. Ich vertrete den Fotografen in einer Auseinandersetzung mit einem schweizerischen Veranstalter, welcher der Auffassung ist, das Internet sei ein Gratis-Selbstbedienungsladen. So hat er Fotos meines Klienten ohne zu fragen verwendet und erachtet letzteren nun als geldgierig und Kulturverhinderer, wenn er wenigstens sein übliches Honorar einkassieren möchte. Mit solchen Geschichten von Bilder- und Textklau im Internet erstreite ich einen Teil meines Grundeinkommens.
Gegen Abend kaufe ich den „Tages-Anzeiger“ am Kiosk. Das mache ich ab und zu, seit ich die Zeitung nicht mehr abonniert habe. Der letzte Bund ist „Eine Themenzeitung von Mediaplanet“ mit fünf Tipps zum Umgang mit Demenz, die sich in der Titeltypographie zwar, aber sonst nicht weiter auffällig vom Erscheinungsbild der Tageszeitung aus dem Hause Tamedia unterscheidet. Mediaplanet ist ein internationales Unternehmen, das 2002 in Schweden gegründet worden ist (ich kann nichts dafür, dass schon wieder Schweden vorkommt) und seine Geschäftsidee in Europa und Nordamerika vermarktet, in der Form von thematischen Beilagen zu Printmedien eben, vom „Svenska Dagbladet“ über das „Wallstreet Journal“ bis zum „Tages-Anzeiger“ – mit dem kleinen, aber umso gewichtigeren Unterschied beispielsweise, dass die Beilage in Schweden etwas transparenter gekennzeichnet ist: „Diese ganze Themenzeitung ist ein Inserat von Mediaplanet“, heisst es dort.
Ziemlich beglückt kehre ich nach der Generalprobe einer zeitgenössischen Kammeroper nach Hause zurück. Gerade rechtzeitig, um noch ein wenig in eine der unzähligen spätabendlichen Talk-Sendungen hineinzusehen. Anne Will, die ihren Sonntagsabendplatz bei der ARD hat räumen müssen, unterhält sich mit dem Chefpiraten, der mit seiner Partei das Berliner Abgeordnetenhaus geentert hat, über gesteckte Ziele. Sie und alle weiteren Gäste der Runde, zum Teil alte Polithasen und der Publizist Roger Willemsen, begegnen dem manierlichen jungen Mann mit gönnerhaftem Wohlwollen. Fast bin ich etwas beruhigt. Die Abschaffung des Urheberrechts, welche sich die Piraten zuvorderst aufs Tapet geschrieben haben, ist vielleicht doch nicht so gewiss. So bleibt den Kunst- und Medienschaffenden und mir ein Teil der Einnahmenquellen noch etwas erhalten und ich kann auf DRS 2 beim Zähneputzen ziemlich zuversichtlich den Rest eines Konzertmitschnitts des Lucerne Festival mithören, von Komponisten, der Werke noch nicht gemeinfrei sind. Der Tag klingt aus, wie er angefangen hat: mit DRS 2.
Ins Bett gehe ich heute mit meinem derzeit österreichischen Lieblingsschriftsteller, um „Alles über Sally“ zu erfahren.
Regula Bähler ist MAZ-Dozentin, Rechtsanwältin und Vizepräsidentin der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI