Medientagebuch von Alexander Tschäppät, Stadtpräsident von Bern

 

Alexander Tschäppät

Alexander Tschäppät

Vom Glück, sich aufregen zu können

Ich bin in der glücklichen Lage, mich fast jeden Tag aufregen zu können. Wenn ich mich aufrege, weiss ich, dass ich noch nicht gleichgültig geworden bin oder gar stumpf. Es soll, ja es muss mich kümmern, wenn ich höre, dass die Vertreter von SVP, FDP und CVP in der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats gegen ein Verbot von Streumunition sind. Ebenso wenn wieder mal ein Lokalpolitiker in einer Berner Lokalzeitung meinen Rücktritt fordert. Oder wenn die Eisbahn auf dem Bundesplatz eingespart wird und damit der breiten Bevölkerung etwas vorenthalten wird, das richtig «fägt».

Nicht selten beginnt die Aufregung schon früh morgens. Ich bin Frühaufsteher und gehe jeden Morgen eine Stunde mit meinen drei Hunden Luce, Serra und Vento spazieren. Das ist ein festes Ritual in meinem Tagesablauf. Dazu gehört, dass ich dabei Radio höre. Zuerst um sechs Uhr die ausführlichen Nachrichten «Heute Morgen» auf DRS 1. Dann nach halb sieben das Regionaljournal und schliesslich die lokalen Radios.

Ich bin gerne Hörer. Radio hören erfordert zwar eine hohe Konzentration, weil man einen Satz nicht einfach nochmals lesen kann wie in der Zeitung. Es erlaubt mir aber gleichzeitig, noch etwas anderes zu tun, ich kann spazieren und in den Wald schauen. Zur Musik kann ich meinen Gedanken nachhängen – oder eben meinen ersten Ärger verdauen. Ich bin den ganzen Tag ständig um Menschen herum, deshalb ist es für mich enorm wichtig, ihn alleine zu beginnen – mit den Hunden und dem Radio.

Später im Bus in die Innenstadt werfe ich einen Blick in 20 Minuten, damit ich weiss, womit die Pendlerinnen und Pendler in der Schweiz sich beschäftigen. Im Büro im Erlacherhof schaue ich mir schliesslich die NZZ an sowie die beiden Lokalzeitungen Der Bund und Berner Zeitung. Spätestens dann rege ich mich auf, wenn ich nebst den sehr vielen guten Berichten wieder eine nur halb recherchierte Geschichte finde, oder wieder bloss ein dürftiger Kommentar, kaum besser als ein Leserbrief.

Natürlich verstehe ich die schwierige Situation, in der sich die Zeitungen und mit ihnen die Journalistinnen und Journalisten befinden. Der Produktionsdruck ist hoch und die Zeit, um präzise zu arbeiten oder ein Ereignis in einem Kommentar einzuordnen, ist häufig knapp. Trotzdem enerviere ich mich, wenn sich Medien zum Sprachrohr eines Verbandes oder eines Provokateurs machen. Ich will keine zahmen Medien, im Gegenteil, ich erwarte, dass sie kritisch sind. Sie sollen den Politikerinnen und Politikern genau auf die Finger schauen, in der Regierung und im Parlament. Aber sie sollen dabei immer mit gleicher Elle messen, unabhängig davon, ob sie eine Stadtregierung, eine Parlamentskommission oder eine Bank unter die Lupe nehmen. Sie sollen die Wahrheit suchen und nicht Klischees zementieren. Von Journalisten erwarte ich Urteilskraft und Sachverstand, sie sollen Treuhänder des öffentlichen Diskurses und der Demokratie sein – und nicht bloss Verkäufer von süffigen Geschichten.

Manchmal, am Morgen auf einem Spaziergang, frage ich mich, ob ich zu viel verlange und ob ich mich weniger ärgern sollte. Vielleicht wäre es gesünder, ganz sicher wäre es bequemer. Doch dann merke ich, wie sich in mir etwas dagegen sträubt, mich mit geringerer Qualität zufrieden zu geben. Dieselben Ansprüche, die ich an mich stelle, sollen auch für die Arbeit anderer gelten. Daran lasse ich mich gerne messen und daran werde ich erinnert, wenn ich mich aufrege. Deshalb ist es richtig und wertvoll, ja, es ist ein Glück, sich aufregen zu können. Solange ich mich aufregen kann, kann ich zufrieden sein mit meinem inneren Seismograph und weiter engagiert Politik machen. Spätestens dann, wenn ich am Morgen gelassen spazieren gehe und mich nicht mehr enerviere, ist die Zeit gekommen zurückzutreten.

Alexander Tschäppät, Stadtpräsident von Bern

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